- das Kernthema in der Enneagramm-Theorie
von A.H. Almaas
von
Seit August
2004 gibt es die deutsche Version des Buches "facets
of unity", "Facetten der Einheit" von
A.H. Almaas zu kaufen. Wie in dem Buch "Neun Porträts der Seele"
seiner Schülerin Sandra Maitri (2001), beginnen auch hier die Schilderungen zu
den einzelnen Enneagramm-Mustern mit
ausführlichen Beschreibungen und Deutungen der "Heiligen Ideen".
Diese
"Heiligen Ideen" wurden bereits von Oscar Ichazo
gelehrt und von Claudio Naranjo
weitervermittelt.
A.H. Almaas war zunächst dessen Schüler, bevor er seinen eigenen
Ansatz, den "Diamond Approach" entwickelte. Mittlerweile wird dieser
Ansatz, der einen mehrjährigen Transformationsprozess unterstützt,
weltweit durch von ihm ausgebildete Lehrer und Lehrerinnen in der sog. "Ridhwan-School" unterrichtet.
Was mich an diesem Buch
besonders fasziniert, ist die von
ihm relativ kurz, am Ende jedes Kapitels beschriebene Kernthematik
der neun Muster. Er stellt dabei einen Zusammenhang
her, zwischen einer, für jedes Muster spezifischen
Verblendung (delusion)
und einer daraus
resultierenden psychologischen Not, die er spezifische
Schwierigkeit nennt. Die nach außen hin sichtbare Handlung, die
ein
Versuch ist, das Dilemma zu lösen, nennt er spezifische
Reaktion oder auch Ego-Aktivität.
Hans Neidhardt
und ich haben in
unserem Buch die existentielle Not und die daraus resultierenden
typischen
Not-Lösungs-Versuche jedes Enneagramm-Musters
auf der Ebene der kindlichen Bedürfnisbefriedigung und
Schmerzvermeidung beschrieben. Hier wird nach meinem Empfinden noch
eine tiefere, bzw. entwicklungsgeschichtlich frühere Dimension angesprochen:
Eine Dimension, in der unser aller erstes Dilemma, der "Fall aus der
Einheit mit dem göttlichen Sein" als Ur-Not angenommen wird, die aber
auch psychologisch ganz konkret als frühkindliches Erleben in jedem von
uns vorhanden ist.
Der zentrale
Begriff zum Verständnis der psychologischen Dynamik bei Almaas ist "basic trust". Ich
übersetze das mit dem Wort Grund-Vertrauen, die Übersetzerin hat
dafür den (in der Psychologie schon sehr strapazierten) Begriff
Ur-Vertrauen gewählt. Almaas versteht darunter "eine
nicht-begriffliche Gewissheit, dass das Universum gut ist, ein nicht
hinterfragtes,
bedingungsloses Vertrauen, dass das Universum, die menschliche Natur
und das
Leben etwas besitzen, das von sich aus grundlegend gut und liebevoll
ist und
uns das Beste wünscht." (S. 44). Das relative Ausmaß an
Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein dieses Grund-Vertrauens in der
menschlichen Seele bestimmt, wie sehr sie sich dem Sein zuwenden kann,
bzw. Ego-Strategien entwickeln und leben muss (vgl. S.42).
Vom kindlichen
Erleben her, beschreibt er den Mangel an Grund-Vertrauen einhergehend
mit
einem Gefühl des "Nicht-gehalten-worden-seins",
das durch einen Mangel an haltender Umgebung in der frühen
Kindheit entstanden ist. Wenn das Kind diesen Halt und die
Unterstützung,
es selbst zu sein, nicht erlebt,
versucht es Strategien zu entwickeln, die diesen Mangel an Halt
ersetzen bzw.
ausgleichen sollen (z.B. S. 69). Dadurch wird die natürliche
Entwicklung
der Seele unterbrochen und ein Ego bzw. Ego-Strategien entwickeln sich
(=
Not-Lösung).
Mir gefällt
an dieser Sichtweise, dass eine psychische Struktur - das Ego -, die
in
anderen Zusammenhängen als der "böse und bekämpfenswerte
Feind" jeglicher Spiritualität angesehen wird, zu einer dem
Mitgefühl zugänglichen und psychologisch verstehbaren
inneren Realität "zusammenschrumpft".
Die spirituelle Not und
Not-Lösung der einzelnen Enneagramm-Muster
Almaas unterscheidet
die drei Ecken (Bauch-, Herz-, Kopfenergie im herkömmlichen
Sprachgebrauch)
danach, welche spirituelle Perspektive sie beim Verstehen der
Gesamtwirklichkeit einnehmen: 8, 9 und 1 haben eine objektive
Sichtweise, es geht um das grundsätzliche Verstehen,
was Gott ist (theistisch), bzw. was
Vollkommenheit ist (nicht-theistisch). Die
linke Ecke (5,6,7) ist die Perspektive des Menschen
auf die
Wirklichkeit; es geht darum, wie die übergreifende Realität in der menschlichen Seele widergespiegelt
wird. Die rechte Ecke
(2,3,4) sind Perspektiven darüber, wie Handeln,
Wirken und Leben geschehen, wer
das umsetzt und wie man dabei verfährt (107 f.).
EINS: Die zugrundeliegende
Täuschung über die
Realität, die spezifische
Verblendung von EINS, nennt Almaas localized rightness,
lokalisierte
Richtigkeit. Hier herrscht die feste Überzeugung vor, dass manche
Dinge im Universum mehr oder weniger, bzw. gar nicht vollkommen sind.
Diese Fehleinschätzung führt zu vergleichenden Urteilen, die für
abschließend und endgültig genommen werden. Sie geht mit der spezifischen Schwierigkeit einher, sich
selbst falsch zu fühlen, mit
einem Makel behaftet, grundsätzlich, von seinem Sein her unvollkommen.
Auch das Gehalten-Werden, die kindliche Umgebung wurde als fehlerhaft
erlebt.
Die spezifische Reaktion bzw. Ego-Aktivität,
die eingesetzt wird,
um das Dilemma zu lösen, ist ein ständiges Verbessern
des gegenwärtigen Zustandes. Sie ist von
unterschwelligem Groll genährt und äußert sich entweder in
permanenter Selbstverbesserung oder dadurch, dass man beweisen muss,
gut und
richtig zu sein (S. 196 ff.).
ZWEI: Am Punkt
ZWEI ist die spezifische Verblendung in
der falschen Überzeugung begründet, man besäße einen eigenständigen
Willen, (separate will),
der unabhängig vom Rest des Universums agiert. Das entspricht dem
Glauben, dass es ein eigenständiges Ich gibt, das bestimmen kann, was
geschieht und die Dinge auf seine eigene Art ursächlich in Bewegung
bringt. Die spezifische Schwierigkeit
des Nicht-Gehalten-Werdens, wird als Erfahrung, nicht seinen Willen zu
bekommen
und dadurch gedemütigt zu
werden, erlebt. Das fühlt sich an wie "eine Kastration, als
würden einem die Vitalität und die Kraft genommen, als wäre das,
was man ist, untauglich, nicht kräftig oder gut genug". Die spezifische
Reaktion auf die Erfahrung,
dass die Dinge nicht so laufen, wie man es möchte, ist eigenmächtiges
Handeln, der
Versuch, sich stur gegen das Universum zu stellen und seinen eigenen
Willen
durchzusetzen (S. 172 ff.).
DREI: Die spezifische
Verblendung am Punkt DREI
nennt Almaas separate doer,
selbständig Handelnder, und meint damit die
fälschliche Überzeugung, dass das eigene Wirken und Handeln
unabhängig vom Rest des Universums stattfindet. "Man sagt, dass der Enneatyp Drei versucht, an Gottes Stelle zu
treten und ein
kleiner unabhängiger Gott zu sein, der seine eigenen Gesetze
entwirft".
Auf der Erfahrungsebene des Kindes drückt sich der Mangel an
Gehalten-Werden durch ein Gefühl von
Hilflosigkeit aus. DREI fühlt sich verlassen, hat den Eindruck,
niemand kümmere sich um sie und sie müsse mit allem alleine
zurechtkommen.
Darüber hinaus verurteilt sie sich selbst noch für ihre eigene
Unzulänglichkeit. Da DREI der Grundüberzeugung des Getrennt-Handelnden folgt (wenn ich nichts tue,
passiert
gar nichts!), ist ihre spezifische
Reaktion auf diese Not Streben,
das Verfallen in angestrengte Aktivität. Sie
manifestiert sich als leistendes, vorantreibendes,
zwanghaftes Bedürfnis, aktiv zu sein. DREI erzeugt ständig ihre
eigene Identität durch Aktivität. (S. 346ff.)
VIER: VIER ist
fälschlicherweise der tiefen Überzeugung (spezifische
Verblendung), eine getrennte
Identität (separate identity) zu
besitzen.
Sie glaubt, dass ihr Ich endgültig getrennt vom Rest des Universums und
davon unabhängig, verschieden und einzigartig ist. "Der Glaube, man
sei ein separates Selbst mit einer separaten Identität, gibt der Seele
das
Gefühl, unverbunden und von ihrer Quelle abgeschnitten zu sein."
Daraus resultiert die spezifische
Schwierigkeit, der "Erfahrungszustand, sich unverbunden,
entfremdet,
ausgestoßen und verlassen zu fühlen." Es ist ein
Gefühl, "von sich selbst, der Wirklichkeit und der Quelle
abgeschnitten
zu sein". Die spezifische Reaktion auf
dieses Erleben mangelnden Grundvertrauens ist die Ego-Aktivität
der Kontrolle,
der Versuch, die eigene Erfahrung zu kontrollieren, so dass man das
Gefühl
der Unverbundenheit nicht fühlen muss. Das Ego erzeugt eine
künstliche Mitte, um die Abwesenheit der wirklichen Mitte nicht zu
spüren. (S. 254 ff.)
FÜNF: Die
zugrundeliegende Täuschung oder spezifische
Verblendung bei FÜNF,
sieht Almaas in dem fälschlichen Glauben, ein separates
Ich (separate self) zu
besitzen. Es ist die Überzeugung, "eine getrennte Wesenheit zu sein,
die aus sich selbst heraus existiert, getrennt von anderen und dem
Universum,
separat von Gott, separat von allem."
... "Bei allen, die diesem Enneatyp
angehören, hat die spezifische
Schwierigkeit ... mit der
Erfahrung zu tun, sich klein, isoliert, abgeschnitten, leer und
armselig zu
fühlen. Das ist ein Zustand defizitärer Isolation. Da FÜNF
sich unfähig fühlt, mit der Realität zurecht zu kommen, ist die spezifische Reaktion, die daraus
entsteht, sich zurückzuziehen. Sie
versucht, sich vor der Realität zu verstecken, sich abzutrennen und
Kontakte abzubrechen. Am meisten will sie sich aber von dem Erleben der
Unzulänglichkeit entfernen (S. 142 ff.).
SECHS: Die spezifische
Verblendung am Punkt SECHS
nennt Almaas no true
nature, keine wahre Natur. Er meint
damit einen Mangel an Glauben und Vertrauen in die Essenz der
menschlichen
Natur und des Universums, die in einem zynischen Zweifel an der wahren
positiven
Natur des Seins deutlich wird. Dieser Zynismus kann sich z.B. in der
Überzeugung äußern, dass Menschen nur aus Ego bestehen und
um ihr Überleben kämpfen. Die kindliche Not (spezifische
Schwierigkeit), die damit einhergeht, ist ein
erlebter Mangel an Vertrauen in die unterstützenden Qualitäten
der Realität, was mit einem
Gefühl ängstlicher Unsicherheit
einhergeht. Als spezifische Reaktion
(Notlösung und Ego-Strategie)
entwickelt SECHS ein defensives
Misstrauen. Es ist eine wache Art des Misstrauisch-Seins, immer
auf der Ausschau
nach Gefahr und allzeit bereit, zur Selbstverteidigung zuzuschlagen..
In diesem
emotionalen Komplex gibt es Angst und Paranoia genauso wie Aggression
und
Feindseligkeit. Man "wagt es nicht, tief in sein eigenes Inneres
vorzudringen,
vor lauter Angst, was man dort finden würde, und man hat von
vorneherein
den Verdacht, dass es nichts Gutes ist" (S. 308 ff.).
SIEBEN: Am
Punkt SIEBEN herrscht der falsche Glaube, die spezifische
Verblendung vor, "man könne seine eigene
Entfaltung dirigieren" (separate
Entfaltung, separate unfoldment). Almaas
meint
damit die Überzeugung, "man könnte seine eigene zeitliche
Ausrichtung für den eigenen Lebensfluss erschaffen, das heißt, man
könnte sein eigenes Leben planen." Die spezifische
Schwierigkeit, die hier aus dem Mangel an
Grundvertrauen entsteht, ist ein Verlust der Fähigkeit, zu wissen, was
zu
tun ist, ein Zustand der Desorientiertheit und ein Gefühl, verloren
zu sein. Die spezifische Reaktion besteht nun darin,
durch Planen zu versuchen, sich eine
Orientierung zu schaffen. Aus mangelndem Vertrauen in die kreative
Intelligenz
des kosmischen Plans, wird ständig daran gearbeitet, eigene
Vorstellungen
über zukünftige Entwicklungen umzusetzen (S. 236 ff. ).
ACHT: Das
Bewusstsein von ACHT ist durch die spezifische
Verblendung der Dualität, (duality)
geprägt. Wenn die zugrundeliegende
Einheit der
Realität nicht wahrgenommen werden kann, dann glaubt man an die
Wahrnehmung, dass die vorhandenen Unterschiede und Trennungen zwischen
den
Dingen endgültig sind und der Wahrheit entsprechen. Durch diesen Filter
werden die Dinge so wahrgenommen, als "stünde eine Seite im Gegensatz
zu der anderen, und eine Seite trüge die Schuld". Die spezifische
Schwierigkeit wird an diesem
Punkt als ein Gefühl, schlecht zu sein, schuldig zu sein, bzw.
grundsätzlich sündhaft (Ursünde) zu sein, erlebt. Daraus
resultiert als spezifische Reaktion die
Selbstbeschuldigung. "Man
beschuldigt sich selbst dafür, nicht göttlich zu sein und beginnt,
sich selbst dafür zu bestrafen und sich an anderen zu rächen"
(S. 129 ff.).
NEUN: Die spezifische
Verblendung am Punkt NEUN
nennt Almaas localized love, lokalisierte
Liebe. Er meint damit den Irrglauben, dass das Liebevolle im
Universum
ein lokales Phänomen ist, das nur an bestimmten Punkten in Zeit und
Raum
auftritt und an Bedingungen geknüpft ist. Daraus ergibt sich die spezifische Schwierigkeit (Mangel an
Gehalten-Werden), sich selbst unliebenswert
zu erleben (Minderwertigkeitskomplex). Das Kind meint, Liebe ist nicht
an dem
Ort, wo es selbst ist, zu finden. Die Seele fühlt sich unwert,
verkleinert, entblößt seiner guten Qualitäten, ein Gefühl,
dass einem innerlich Qualitäten fehlen, die andere haben. Die spezifische Reaktion darauf (Not-Lösung
oder Ego-Aktivität) ist Einschlafen.
Die Seele wird unbewusst in Bezug auf ihre wahre Realität. Das
Einschlafen ist im Wesentlichen ein Aufgeben, eine Resignation, ein
Vergessen und unbewusst werden, ein Vernachlässigen des eigenen
Seins, weil man es nicht für liebenswürdig hält (S. 279 ff.).
Der Umgang mit den
"Heiligen Ideen"
Auf mich (und
wie ich mitbekommen habe, auch andere Menschen) wirkte die erste
Konfrontation
mit den "Heiligen Ideen" zunächst eher irritierend, weil sie in Maitris Buch für mein Gefühl eher "esoterisch-abgehoben" daherkamen und irgendeine
Art von Vollkommenheits- oder Erleuchtungsanspruch erzeugten. Bei der
Lektüre von Almaas' Buch verstand ich jedoch, dass er sie als die
Korrektur der jeweiligen Täuschungen über die Wirklichkeit (Verblendungen)
begreift, wobei sie
als neun Facetten einer Gesamtwirklichkeit verstanden werden. Das
zunächst
hypothetische Annehmen und im weiteren Prozess tiefere Verstehen
dieser
Ideen, wirkt im Denken und Begreifen wie ein Katalysator, es weicht die
Einseitigkeit der eigenen Perspektive auf.
Ein Beispiel:
DREI ist im Grunde ihrer Seele davon überzeugt, dass alle Bewegung von
ihr
selbst (ursächlich) ausgeht, wenn sie nichts tut, bewegt sich nichts (separate doer).
Die heilige Idee "Heiliges Gesetz" legt ihr nun nahe, jede ihrer
eigenen Handlungen und überhaupt jede Bewegung im Universum als Teil
einer universellen Gesetzmäßigkeit bzw. gesamt-kosmischen
Bewegung zu begreifen. Das ist genau die korrigierende Vorstellung, die
zwar
einerseits in einen DREIer-Verstand kaum
hineingeht
aber andererseits auch den freien Raum eröffnet, um aus der
angestrengten Aktivität des "alles-immer-selber-machens"
herauszukommen und sich den natürlichen Bewegungen des Seins
hingeben zu können.
Nach Almaas
ist das Ego als der strukturelle Anteil der Seele zu verstehen, der
Teil, der
sie daran hindert, sich ganz dem Sein (Gott) zuzuwenden. "Im System des
Enneagramms wird das Ego als ein
neunköpfiger Drache
dargestellt, was ausdrückt, dass jede Fixierung zwar einer spezifischen
Täuschung entspricht, sie alle aber derselben Kreatur angehören"
(S. 104 f.). Aus dieser Auffassung ist verständlich, dass es in seinem
Lehr-System Sinn macht, sich nicht nur mit der zum eigenen Muster
gehörigen, sondern mit allen neun "Heiligen Ideen" zu
beschäftigen, um den Verblendungen des Egos entgegen zu wirken.
Literatur:
Almaas, A.H.:
Facetten der Einheit. Das Enneagramm der
Heiligen
Ideen. Kamphausen:
Almaas, A.H.:
Facets of Unity. The Enneagram of Holy
Ideas. Shambhala:
Boston & London, 2002
Gallen, M.A. & Neidhardt, H.: Das Enneagramm
unserer Beziehungen. Rowohlt:
Reinbek, 1994
Maitri,
S.: Neun Porträts der Seele. Kamphausen: Bielefeld, 2001
Veröffentlicht
in EnneaForum 28/2005